APPELT: Versicherungen bieten keinen Rechtschutz an, der den speziellen Anforderungen von Künstlern, wie z.B. Copyright-Angelegenheiten, angepasst ist. Sie sind der Meinung sind, es werde zu viel von den Künstlern geklaut. Ist es für uns Künstler wirklich so unmöglich, eine adäquate Rechtschutzversicherung zu bekommen oder gibt es da vielleicht noch andere Möglichkeiten?


NOLL: Die Rechtschutzversicherungen sind Betriebe, die standardisiert Risiken versichern, die in Summe gewährleisten, dass sie mehr einnehmen als sie ausgeben. Und das Urheberrecht ist gekennzeichnet von einer großen Differenz und großen Bandbreite der Entscheidungen, weil immer einzelfallbezogen entschieden werden muss. Deshalb lassen sich die Problemfälle im Urheberrecht schwer standardisieren. Es gibt also keine Rechtschutzversicherung, die Urheberrechtsfälle versichert. Bei einem normalen Betrieb gibt es eine Betriebshaftpflichtversicherung, Urheberrechtsstreitigkeiten sind aber regelmäßig ausgenommen, weil die einzelnen Schadensreferenten der Versicherung zu wenig abschätzen können, ob es zweckmäßig ist, einen Versicherungsfall abzudecken oder nicht. Das ist ein Spezialgebiet, und aus dieser Unsicherheit erwächst natürlich die Vermutung der Rechtschutzversicherungen, dass sie da mehr draufzahlen, als sie dann Prämien einnehmen. Deshalb tun sie es nicht. Das heißt, das, was man als Ideenklau oder als geistigen Diebstahl bezeichnet, lässt sich mit bestehenden Rechtschutzversicherungen nicht abdecken.


APPELT: Wie schätzt du als Anwalt die Gefahr des Ideenklaus ein? Ist sie so groß, dass es für die Versicherungen tatsächlich nicht rentabel ist, uns Künstler zu versichern?


NOLL: Also ich schätze die Gefahr weniger groß ein, als die meisten der Künstlerinnen und Künstler selber, wenn man den Unterschied berücksichtigt zwischen dem fertigen Kunstwerk mit Werkcharakter und dem, was dem fertigen Kunstwerk als gestalterische Idee zugrunde liegt. Kein Werk ohne gestalterische Idee, aber sehr wohl viele Ideen, ohne dass sie sich in einem Werk materialisiert hätten. Das Urheberrecht schützt nur Werke. Die Idee wird durchs Urheberrecht überhaupt nie geschützt. Das heißt, wenn man im landläufigen Sinn sagt, der hat mir etwas geklaut!, dann bezieht sich das meistens auf die zugrunde liegende Idee, aber nicht auf das konkrete Werk in seiner Ausformung. Und der Klau ist insofern kein Klau, weil man das ja darf. Diebstahl würde voraussetzen, dass man sich etwas Fremdes aneignet, ohne dass man das darf. Das Urheberrecht schützt also nur das Werk und das Werk selber wird ganz selten geklaut. Das wäre ein Plagiat. Was es sehr oft gibt, ist, dass man Ideen, die in irgendeiner Weise kommuniziert werden, übernimmt und dann neue Formen daraus macht, und da gibt es in der Rechtsordnung nur einen Paragraphen, der steht im ABGB, §1041, der besagt, wenn man eine fremde Sache – und Ideen gelten in Österreich auch als Sache –, zum eigenen Vorteil verwendet, ohne dass man die Zustimmung eingeholt hat, dann schuldet man das angemessene Entgelt für die Verwendung dieser Sache. Das heißt, man kann zwar nicht auf Unterlassung klagen, man kann es nicht verbieten, aber man muss sich nicht gefallen lassen, dass der eigene Entwicklungsaufwand, die eigene Mühe bei der Ausformung dieser Idee zum wirtschaftlichen Nutzen eines anderen verwendet wird. Dagegen gibt es einen Schutz, aber nur insofern, als dass man dann halt am wirtschaftlichen Ergebnis beteiligt wird, nicht aber, indem man auf Unterlassung klagen kann.


APPELT: Gelten außerhalb von Österreich ähnliche Regeln?


NOLL: Das ist in Deutschland nicht viel anders, weil im gesamten europäischen – und erst recht im anglo-amerikanischen – Raum die Idee selber nicht geschützt wird. In den USA ist es ein bisschen anders, weil es da die „Fair use doctrine“ gibt. Wo da die Grenze ist zwischen der Idee und dem Werk, das ist dort nicht so genau umrissen wie bei uns. Da kann man sehr viel eher zu Gericht gehen, aber es ist dann immer auch eine Frage, ob es sich lohnt oder nicht. Eine Firma, die etwas „klaut“ hat einen viel längeren wirtschaftlichen Atem, so einen Rechtstreit durchzustehen, als es eine Künstlerin oder ein Künstler.


APPELT: Zwischen Künstlern und Firmen gibt es neben dieser wirtschaftlichen Diskrepanz auch unterschiedliche Qualitätsansprüche an Produkte. Den künstlerischen Ideen und Konzepten liegen Erfahrungswerte zugrunde, die die Firma nicht hat. Der oder die Künstlerin weiß im Normalfall ganz genau, was für ein Potenzial hinter einer Idee steckt, weil er oder sie diese von Grund auf kennt. Der Firma fehlt dieses Wissen. Insofern kann sie eine bestimmte Qualität alleine gar nicht erreichen, auch wenn sie es wollte.


NOLL: Das ist dann aber kein juristisches Problem klarerweise, sondern eine Frage, wie sehr Unternehmen, die darauf zielen, marktförmige, marktgängige Produkte herzustellen, die Erwartung haben, dass durch eine höhere Qualität sich diese „market appearance“ dann auch niederschlägt. Es gibt ja auch das Gegenteil. Es gibt Firmen wie Manufactum zum Beispiel, die damit werben, dass sie besonders hohe Qualität in der Verarbeitung und Verwendung der für das Produkt wichtigen Substanzen haben. Das füllt eine gewisse Nische, aber generell ist immer die Frage, wie stelle ich ein Produkt in seiner Funktionalität mit möglichst geringem Mittelaufwand her, und die ersten Abstriche, die natürlich gemacht werden, sind die Materialien, die verwendet werden oder von dem Aufwand, eine Sache „schön und gut“ zu machen ...


APPELT: ... und bis zum Ende zu entwickeln.


NOLL: Bis zum Ende zu entwickeln, ja. Wenn sich nämlich zeigt, dass ein Produkt auch vorher „geht“, dann finden die Unternehmen unter betriebswirtschaftlichen Aspekten diesen zusätzlichen Aufwand sinnlos. Da konfligieren natürlich die Interessen der Entwickler mit denjenigen, die das Produkt dann auch industriell oder wie auch immer herstellen und vermarkten wollen. Für das Unternehmen besteht die Logik in Geld-Haben oder Geld-nicht-Haben. Das ist das einzige. Alles andere ist quasi Philanthropie oder Ambition oder wie auch immer. Für die Entwickler  hingegen lautet das Kriterium „gut“ oder „nicht gut“. Die Kriterien von Unternehmern und Entwicklern widerstreiten und nur in wenigen Fällen können sie harmonisch nebeneinander existieren. Für die Entwickler heißt das, sich sehr früh am Entwicklungsprozess so zu beteiligen und so einzubringen, dass eine Vermarktung eines minderen Produkts dann gar nicht möglich ist. Manchen Designern gelingt das. Die haben halt dann Exklusivität auf ihre Idee, Mitsprachemöglichkeit bei der Ausgestaltung und Ausformulierung des Produkts. Im Regelfall wird es aber so sein, dass die Entwicklerinnen und Entwickler Ideengeber sind, während die Umsetzung in der Hand derer ist, die es sich wirtschaftlich auch leisten können. Die Lehre daraus ist, sich im Entwicklungsprozess möglichst schnell vertraglich mit den Firmen so zu verbinden, dass man – salopp gesagt – die Hand noch drauf hat, bevor das Produkt dann tatsächlich bis zur Marktreife entwickelt ist.


APPELT: Das halte ich für sinnvoll. Außerdem glaube ich, dass es, wenn ein Produkt so weit entwickelt wird, dass ein qualitativ hoch stehendes Produkt daraus entstehen kann, zwar bei der Entwicklung zu einem zeitlichen und finanziellen Mehraufwand kommt, dass dies jedoch nicht bedeuten muss, dass die Produktion des Produkts in weiterer Folge über einen größeren Zeitraum gesehen teurer käme. Man schafft ja mit einer besseren Qualität eine viel effizientere Basis für die Weiterentwicklungen von Nachfolgeprodukten.


NOLL: Das setzt aber eine Perspektive voraus, die quasi das Produkt selber immer transzendiert. Während Unternehmen ja darauf aus sind, das Investment, das sie machen, auch schon in der Entwicklungsphase möglichst niedrig zu halten, und die Gesamtkosten, die mit einem Produkt verbunden sind – das sind ja nicht nur die unmittelbaren Produktionskosten, sondern auch die vorlaufenden Entwicklungskosten –, gering zu halten. Wenn ich also jetzt quasi schon in der Entwicklung, in der Ausarbeitung von Prototypen oder Erstentwürfen hohe Kosten habe, dann gerät die Firma immer unter Stress. Denn die Erwartungsaussichten, ob eine Produktion und der darauffolgende Absatz des Produkts gut läuft, kann man immer erst in der Realität feststellen. Es gibt wenige Produkte, die schon in der Entwicklungsphase eine Perspektive zulassen, die dann den Verkauf oder die Marktgängigkeit als sicher erwarten lassen. Und damit ist das zunächst einmal ein Aufwand ins Ungewisse, der durch andere Produkte gedeckt sein muss, und das ist genau das, was Firmen natürlich scheuen. Ich glaube, diesen Spalt oder Gegensatz kann man prinzipiell nicht auflösen. Man kann nur schauen, dass man als Entwicklerin oder als Entwickler einen derartigen Namen hat, dass es der Firma durch Verwendung dieses Namens und der bisherigen Erfahrung als gewiss erscheinen lässt: Damit werden wir Erfolg haben!


APPELT: Das setzt trotzdem voraus, dass es zumindest einmal probiert wird. Der große Name ist ja kein Garant für Erfolg, er erhöht nur die Chancen dafür. Wie auch das Produkt, das er entwickelt. Das heißt, in jedem Fall muss einmal anfangs das Risiko eingegangen werden.


NOLL: Das ist natürlich, das ist genuin unternehmerisches Handeln, hier mal auf Risiko zu setzen. Und dieses „Auf-Risiko-Setzen“ ist zumindest im heimischen Bereich nicht typisch für Unternehmen. Aber nur damit geht es. Ich brauche die Innovationskraft auf Seiten der Entwicklerin und des Entwicklers und den Unternehmergeist auf der anderen Seite. Nur wo beides zusammenkommt, da sind die Bedingungen für ein gutes Produkt wirklich vorhanden. Doch das kann ich schwer absichern, da ich kein Unternehmen dazu bringen werde, dass es sich verpflichtet, eine bestimmte Idee zu realisieren. Vielmehr – wie generell bei geistigen Produkten –finde ich immer nur Leute, die allenfalls das Recht erwerben, ein Produkt zu machen und eine Idee zu nutzen, aber in ganz seltenen Fällen werden sie sich dazu verpflichten. Und genau diese Verpflichtung wäre wichtig, um der Entwicklerin oder dem Entwickler die nötige Zuversicht zu geben, sich zu sagen „Na ja, es ist sinnvoll, da wirklich Herzblut, Arbeit und Zeit zu investieren“. Daran hapert es. Genau an diesem Gap, da spielt es sich ab und daran hapert es schwer.


APPELT: Liegt das auch an mangelndem Verständnis von Leuten aus dem Wirtschaftsbereich gegenüber Leuten aus kreativen Bereichen oder auch aus dem Wissenschaftsbereich?


NOLL: Wenn man es so darstellt, dann individualisiert man zu sehr. Ich glaube eher, dass es tatsächlich eine kultursoziologische Frage ist: Wie sehr bin ich bereit, ein Risiko einzugehen und mich auf neue Formen mit ungewisser Aussicht einzulassen? Und wie sehr halte ich es aus auch hinzunehmen, dass dann möglicherweise eines, ein zweites, ein drittes nichts wird, und bleibe trotzdem dabei, etwas anderes haben zu wollen, als es jetzt schon gibt? Das ist, glaube ich, eine Mentalitätssache, die von Region zu Region sehr unterschiedlich ist und die man ganz schwer beeinflussen kann; oder, wo ich auch skeptisch bin, dass man mit so technischen Modellen der Investitionsförderung oder ähnlichem wirklich etwas bewegt. Das spielt sich dann eher auf der Oberfläche ab und ändert nicht wirklich die Substanz des Zusammenspiels von Betrieb und Innovation.


APPELT: In unserer Region orientiert man sich also mehr am Finanziellen, an einer scheinbaren Sicherheit.


NOLL: Ja, man könnte idealtypisch gegenüberstellen: Firmen, denen es gut geht, die setzen in Österreich nicht so sehr auf Innovation, weil sie quasi durch dieses Gutgehen die Zuversicht haben: „Wir machen ja eh das Richtige, wir brauchen nichts Neues!“ Während Firmen, denen es schlecht geht, auch nicht auf Innovation setzen, sondern nur das Bestehende zu kopieren versuchen und quasi sich opportunistisch anzupassen an das, was geht, weil das Andere, das Neue, zuviel Risiko birgt.


APPELT: Dass dieses Neue oder Andere angestrebt wird, erlebe ich am ehesten bei Leuten, die aus Familienbetrieben kommen, die selber noch verantwortlich sind für die Betriebe. Die haben am ehesten diesen Willen und auch den Wunsch, einen Schritt weiterzugehen als andere, um auf wirklich hoher Qualitätsebene zu arbeiten.


NOLL: Wahrscheinlich auch deswegen, weil sie die Produkte ihres Unternehmens unmittelbar sich selber als Individuum zuzurechnen gewöhnt sind und sich damit identifizieren. Während in größeren Betrieben oder in quasi Kapitalgesellschaften jeder Manager von vornherein damit rechnet, dass er das nächste Jahr schon in einer anderen Firma ist. Durch diesen Wechsel findet nicht das statt, was eigentlich für Innovation notwendig wäre, nämlich das Kontinuum der persönlichen Erfahrung und der Identifizierung auch mit Fehlschlägen, die man da nicht als Pleiten erlebt, sondern als notwendige Schritte auf dem Weg zum Neuen. Während für jeden Manager, der als Angestellter in einer Kapitalgesellschaft ist, der Fehlschlag per se was Schlechtes ist, kann nur durch diese persönliche Identifizierung der Fehlschlag als ein Lernereignis gewertet werden – und dazu braucht man einen anderen Hintergrund.


APPELT: Wenn Forschungsergebnisse aus verschiedenen Wissenschaftsbereichen für Firmen interessante und fürs Marketing gut klingende Erkenntnisse liefern, dann ergeht es den Wissenschaftlern ähnlich wie uns Künstlern. Jedenfalls kenne ich genügend Wissenschaftler, die ihre Forschungsergebnisse in industriellen Produkten in einer Weise verwertet sehen, die dann kaum noch den wissenschaftlichen Erkenntnissen entspricht. Beim Licht denke ich da konkret an Produkte, die sich auf die Erkenntnisse der Chronobiologie (Tages- und Nachtrhythmen) beziehen. Eine Lichttherapie-Lampe oder Dämmerungslampen gibt es mittlerweile in allen Elektromärkten zu kaufen. Solche Produkte bringen dem Endverbraucher dann nicht annähernd die versprochenen medizinischen oder emotionalen Vorteile. Kann man in solchen Fällen von einem Missbrauch von Forschungsergebnissen sprechen?


NOLL: Also ich glaube, das ist der für unsere Gesellschaft typische Gebrauch von Erkenntnis. Wir haben ja keine Instanz, die gesellschaftliche Verantwortung von Wissenschaft festlegt. Sondern wir haben uns auf ein Modell geeinigt, in dem die Wissenschaft zwar frei ist, gleichzeitig aber auch die Wirtschaft frei ist, das zu nehmen, was herumliegt. Wenn man sich auf dieses Modell einigt, darf man sich nicht wundern, wenn die Wirtschaft oder die einzelnen Unternehmen halt das, was es an wissenschaftlicher Erkenntnis gibt, nur genau in dem Umfang aufgreifen, in dem sie durch das Aufgreifen dieser Idee bessere Verwertungsbedingungen für ihr eigenes Kapital sehen. Insofern ist der Vorwurf des Missbrauchs eine moralisierende Haltung, die in Inkongruenz zu unserem Gesellschaftssystem steht. Es bleibt dann beim „Jammern“ über das, was in Wirklichkeit für unsere Gesellschaft (leider) naturgemäß ist. Wissenschaft in unserer Gesellschaft ist ein gesellschaftliches Subsystem, das unter einer gesellschaftlichen Verantwortung steht. Das gilt bei Eizellenforschung genauso wie bei sonstigen Forschungen, oder auch bei der Literaturwissenschaft. Es könnte jeder Literaturwissenschaftler sagen: „Wieso gibt es so eine Menge Bücher, die sich nicht an die Erkenntnisse der Literaturwissenschaft halten?“ Der naturwissenschaftlichen Forschung geht es nicht anders. Sie kommt halt systemintern, bezogen auf das System Wissenschaft, zu Ergebnissen. In welchem Umfang die von der übrigen Gesellschaft aufgenommen werden, hat sie aus der Hand gegeben. So wie alle gesellschaftlichen Subsysteme bei uns soweit gedrängt sind, dass das eine System dem anderen keine Verantwortung mehr schuldet. Also ist das ganz normal. Ich würde mich darüber nicht wundern, sondern mich würde es wundern, wenn es anders ist.


APPELT: Ich nehme jetzt nochmal die Chronobiologie und die Lichttherapie als Beispiel her. Wenn die Industrie Lampen verkauft, die womöglich dem Menschen schaden oder einfach nicht den versprochenen Erfolg bringen, weil sich die Industrie bei der Herstellung der Lampen weder an wissenschaftliche Erkenntnisse hält noch den Endverbraucher genügend informiert, dann bin ich damit ganz und gar nicht einverstanden und würde als Vertreterin von Langsames Licht / Slow Light davon abraten, bestimmte Produkte zu kaufen oder zu benützen.


NOLL: Ja, das gilt aber für alle gesellschaftlichen Produkte. Da ist die Lichttherapielampe nicht anders als jeder Schweinsbraten, der im Gasthaus verkauft wird. Ich müsste für alle Dinge, die ich nutze und verwende, einen Beipacktext nehmen; und das bezeichnet eben genau das Feld gesellschaftlicher Verantwortung gegenüber Erkenntnis. Die Gesellschaft ist offensichtlich im politischen System noch nicht so weit, dass sie die medizinische Bedenklichkeit von z.B. bestimmten Lichttherapielampen auch als gesellschaftspolitisches Problem erkannt hat. Das ist eine Frage des Lobbyismus. Es hat ja auch sehr lange gebraucht, bis bei gängigen medizinischen Produkten die Notwendigkeit entstanden ist, die Bevölkerung darüber aufzuklären. Im Ergebnis führt das dazu, dass man Beipacktexte hat, die in 6-Punkt-Schrift so geschrieben sind, dass da zwar alles drinnen steht, aber letztlich steht doch nur drinnen: „Wir wissen eh nicht wie es wirkt. In den meisten Fällen, die wir beobachtet haben, gibt es kein Problem!“ Also die Sicherheit, die daraus erwächst, ist eine scheinbare Sicherheit, weil wirklich sicher wäre es nur, wenn man genau dieses jeweils notwendige Medikament im Hinblick auf die Person, die es dann nutzt, auch tatsächlich vorher abtestet. Das geht aber im gesellschaftlichen Schnitt nicht. Und so wie man halt Bedienungsanleitungen bei technischen Geräten machen muss, geht das nur durch entsprechende Vorschriften im Bereich Konsumentenschutzrecht, und dort gibt es noch kein entsprechend ausgeprägtes Sensorium. Nur wenn es einen Lobbyismus dafür gäbe, würde der Gesetzgeber mal dazu kommen, dass er sagt: „Auch da wäre es notwendig, wenn man die Bevölkerung darüber aufklärt, was ist.“ Das ist eine Frage der Zeit und des Lobbyismus. Aber die Wissenschaft, um zurückzukommen, darf sich nicht darüber beklagen, denn das ist quasi das Pendant der „Freiheit der Wissenschaft“. So wie die Wissenschaft frei ist in dem, was sie erforscht, ist die Gesellschaft frei in dem, was sie davon an Erkenntnis aufnimmt. Die Alternative wäre, jetzt sage ich es ganz böse, ein stalinistisches Modell der Vorgabe, was ihr forschen dürft, mit gleichzeitiger Verpflichtung, nur das in die Öffentlichkeit gelangen zu lassen, was für uns, aus welchen Gründen auch immer – aus gesundheitlichen, politischen oder sonstigen Gründen – vorteilhaft ist. Und dieses Modell hat man nicht in der Realität. Deshalb darf sich Wissenschaft auch nicht darüber beklagen. In unserer Gesellschaft ist das maßgebliche Kriterium, ob man mit einer bestimmten Erkenntnis Gewinn machen kann. Auch unser Wissenschaftssystem wird immer mehr darauf ausgerichtet.


APPELT: Mit so einem fokussierten Blick auf rein betriebswirtschaftliche Vorteile verliert man den Blick auf die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, gegenüber denjenigen, denen man ein Produkt verkauft und durch die man letztlich den eigenen Betrieb am Laufen hält.


NOLL: Genau, darum bin ich der Meinung, dass wir ein schlechtes Wirtschaftssystem haben, weil genau dieser Bereich der Verantwortung per se ausgeschlossen ist und es ja fast schon als sündig gilt, das einzufordern, weil das ja den Erfordernissen der Gewinnmaximierung entgegensteht. Aber wenn der Wert einer Firma immer nur an den Aktienkursen, nicht an der Qualität der Produkte festgemacht wird, dann ist das ein naturwüchsiges Ergebnis.


APPELT: Ja, mit diesen Wertvorstellungen wachsen wir auf. Sie werden als erstrebenswert dargestellt und auch an allen Wirtschaftsuniversitäten gelehrt. Selbstverständlich übernehmen wir dann dieses System und tragen es weiter.


NOLL: Dann habitualisiert sich genau diese Sichtweise so, dass sie sich als Religionsersatz in den Köpfen festmacht. Gut ist dann nur noch das, was sich verwerten lässt, und die Verwertbarkeit ist dann ein höherrangiges Gut als die Frage der sachlichen Qualität eines Produkts.


APPELT: Wobei ich glaube, dass sich so ein Denken nie in der gesamten Gesellschaft etablieren kann. Es gibt ja noch diese menschliche Komponente, eine Eigenverantwortlichkeit, die wir auch von klein auf lernen.


NOLL: Das glaube ich auch. Es gibt einerseits so eine menschliche Komponente und es gibt andererseits so was, das würde ich beschreiben als Widerständigkeit der Sache selber. Weil sich ja herausstellt, dass Dinge, die nicht gut sind, die Menschen unbefriedigt lassen, nur scheinbar befriedigen. Also eine Lampe, die letztlich den Therapieerfolg nicht erzielt, wird irgendwann einmal scheitern, egal wie viel Geld ich in die PR und in die Werbung stecke. Was nicht ausschließt, dass es mitunter lange dauert, bis man draufkommt, dass es so ist.


APPELT: Ja, das war so mein Gedanke vorher – eine längerfristige Perspektive zu haben, die dann aber auch funktioniert. Mit mehr Zeit- und Geldaufwand schon von Beginn an eine gute Basis schaffen, mit der später dann vielleicht sogar ein, zwei Produktionsschritte eingespart werden können.


NOLL: In Österreich zum Beispiel ist die Vorarlberger Textilwirtschaft das beste Beispiel dafür, wie über Jahrzehnte hinweg keine einzige Innovation gemacht wurde, sondern nur versucht wurde, das, was es an Innovationen weltweit gegeben hat, möglichst schnell in den eigenen Betrieb zu integrieren und sich jeden Innovationsaufwand zu sparen. Und das Ergebnis ist, dass wir jetzt keine Vorarlberger Textilindustrie mehr haben, weil sie es selber über Jahrzehnte hinweg versäumt hat, eigenständige Forschung und Entwicklung zu netreiben. Solche Beispiele gibt es in vielen Bereichen der Industrie und bei Unternehmen. Firmen und Manager werden nicht dafür bezahlt, dass es ein gutes Produkt gibt, sondern sie werden dafür bezahlt, dass entweder die Aktionäre oder die Gesellschafter durch den Mitteleinsatz mehr zurückbekommen, als sie investiert haben. Darum ist die Qualitätsentwicklung und die Ausrichtung auf Innovation, Forschung und Entwicklung etwas, das nur dann als Weg beschritten wird, wenn es die Zuversicht gibt, dass man damit am Markt gegenüber den Konkurrenten einen Fortschritt hat. Deshalb gibt es Forschung und Entwicklung. Und das Recht sichert das auch ab. Das ganze Patentrecht zum Beispiel oder das Markenrecht und das Urheberrecht dienen der Absicherung dieses Fortschritts. Im Regelfall beinhaltet es zeitliche Grenzen und für diese Zeit soll es möglich sein, dass derjenige, der einen Entwicklungsaufwand betrieben hat, tatsächlich auch einen wirtschaftlichen Vorteil hat. 


APPELT: Was hältst du als Anwalt, der unter anderem auch auf Copyright-Angelegenheiten spezialisiert ist, von dieser vielfach propagierten Offenheit des Netzes, Offenheit eben auch im Bezug auf Ideen?


NOLL: Ein weites Feld. Ich finde, die Diskussion hat eine falsche Aufmerksamkeit. Dort, wo es darum geht, Informationen zu teilen, besteht diese Freiheit schon heute. Die Informationen, die Ideen und so weiter, die es gibt, die werden heute schon kommuniziert. Da muss ich am Urheberrecht und der Freiheit des Netzes gar nichts ändern. Dort, wo es drum geht, die Ergebnisse des Schaffens Einzelner zu schützen, sehe ich nicht ein, warum sie sich ausgerechnet im Bereich „geistiges Eigentum“ enteignen lassen sollten, weil große Firmen, die großes Landeigentum oder was auch immer haben, sich geschützt weiter ihres Eigentums erfreuen dürfen. Also zielt das Ganze auf eine Enteignung der geistig Schaffenden hinaus. Insofern, finde ich, hat das eine ganz falsche Schlagseite. Open-Source-Sachen und die Freiheit des Netzes und so weiter, das sind, finde ich, so lange ideologische Schalmeienklänge, als man sich nicht darüber unterhält, wie unsere Gesellschaft ihre Struktur überhaupt aufgebaut hat und wo da die wesentlichen Kampf- und Knotenpunkte der Auseinandersetzung sind. In all den Bereichen geht es um den Markt als zentralem Faktor für die Regulation der Gesellschaft. Und ist der Markt überhaupt eine Institution, die geeignet ist, gesellschaftliche Wohlfahrt herzustellen? Da bin ich vielen Bereichen ganz skeptisch. Ich glaube eher, dass man die Gesellschaft zum Teil deregulieren muss, was eine Vielzahl von so Unannehmlichkeiten bei Gewerberecht und Baurecht, wie auch immer, betrifft, dass man sie aber in anderen Bereichen reregulieren und wiederregulieren müsste, im Bankenbereich bis was weiß ich wohin. Und so lange diese Verhältnisse nicht gemeinsam ins Visier kommen, finde ich diese Diskussion eher ideologisch und schädlich. So was wie die Piratenpartei, die die Freiheit des Netzes auf ihre Banner geschrieben hat, ist halt eine Sandkastenpartei, solange sie sich nicht selbst Verantwortung darüber ablegt, in welchem Kontext ihre Forderungen stehen. Und das wird momentan nicht gemacht. Deshalb ist diese Diskussion nichts, was mich sehr erfreut, ich halte sie eher für ideologisch und demagogisch. Und sie führt insgesamt, wenn ich es richtig sehe, eher auf eine Schwächung der schaffenden und der schöpferischen Menschen hinaus, als dass es sie stärkt.

Alfred J. Noll, geb. 1960 in Salzburg. Seit 1992 Rechtsanwalt in Wien, spezialisiert auf Medien- und Ur-
heberrecht, Kunst-Restitutionsrecht. – Studium der Rechtswissenschaft an den Universitäten Salzburg und Wien (Dr. jur. 1983). Studium der Soziologie am Institut für Höhere Studien (IHS) in Wien (1983 bis 1985). Habilitation für Öffentliches Recht und Rechtslehre (1998).

Mitgliedschaften:
Österreichische Juristenkommission; Mitglied im Ausschuss der Rechts-
anwaltskammer Wien (seit 2004); Gründer und (Mit-)Herausgeber der Zeitschrift „Journal für Rechtspolitik“; Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Zeitschrift „Medien und Recht“.

Wichtigste Publikationen:
Handbuch zum Übersetzungsrecht
und zum Übersetzer-Urheberrecht (Wien 1994);
Sachlichkeit statt Gleichheit? Eine rechtspolitische Studie über Gesetz und Gleichheit vor dem österreichischen Verfassungsgerichtshof (Wien /
New York 1996);
Gott in die Verfassung? (Wien 2003 – mit M. Welan);
Rechtslagen. Kleines Panoptikum fraglicher Rechtszustände
(Wien 2004);
Sprachen des Rechts & Recht der Sprache (Wien 2004 – mit M. Welan);
„Rechtsschutz neu“ im Österreich-Konvent? (Wien 2004);
Österreichisches Verlagsrecht
(Wien 2005);
Die Benützung rechtswidriger Vorlagen (Raubkopien) bei der Herstellung digitaler Vervielfältigungsstücke zum privaten Gebrauch (Wien 2005);
Mediengesetz. Praxiskommentar
(Wien 2012 [im Erscheinen] – mit
W. Berka, L. Heindl, Th, Höhne);
Die Abgelegene. Einige kursorische Anmerkungen zur Österreichischen Unabhängigkeitserklärung 1945
(Wien 2010 – mit M. Welan);
Kannitz. Eine Parabel (Wien 2010).